Babel: Fluch oder Segen?

Anhand einzigartiger literarischer Dokumente illustriert eine neue Ausstellung, wie Übersetzungen Kulturen prägen und verbinden

text Nicolas Ducimetière

Die Wege der Übersetzung – Babel in Genf, Fondation Martin Bodmer: 11. November 2017 bis 25. März 2018

„Da stieg der Herr herab, um sich Stadt und Turm anzusehen, die die Menschenkinder bauten. Er sprach: Seht nur, ein Volk sind sie und eine Sprache haben sie alle. Und das ist erst der Anfang ihres Tuns. Jetzt wird ihnen nichts mehr unerreichbar sein, was sie sich auch vornehmen. Auf, steigen wir hinab und verwirren wir dort ihre Sprache, sodass keiner mehr die Sprache des anderen versteht“ (Genesis 11, 5-7). So galt die Sprachenvielfalt in der Bibel nicht als Bereicherung, sondern als Fluch Gottes, um die Menschen für ihren Hochmut zu strafen. Aus diesem babylonischen Sprachgewirr konnten nur Missverständnis und demnach Ablehnung und Hass erwachsen. Abhilfe schafft einzig die „Übersetzung“: Sie ist imstande, zwischen den sprachlich voneinander getrennten Völkern und Zivilisationen eine Brücke zu schlagen, so dass der Fluch zur Bereicherung wird.
Der Zürcher Bibliophile Martin Bodmer erwarb in über einem halben Jahrhundert eine der weltweit bedeutendsten Privatsammlungen in Anlehnung dessen, was Goethe als Weltliteratur bezeichnete: Der Begriff der Übersetzung steht somit im Zentrum der seit 2015 unter das Weltdokumentenerbe der UNESCO fallenden Sammlung. Bei den fünf großen „Säulen“, auf denen diese Bibliothek aufbaut, handelt es sich gleichermaßen um Übersetzungsabenteuer: Homer, die Bibel, Dante, Shakespeare und Goethe. So verkörpern die Übersetzungsarbeiten Homers etwa sämtliche Etappen in der Geschichte des Begriffs der Übersetzung selbst. Uneinigkeit und Zwietracht herrschten mit Blick auf die Bibel-Übersetzungen zwischen der Vulgata des heiligen Hieronymus und der lutherischen Reformation, aus denen die Sprachen hervorgingen, die wir heute sprechen. Dante bezog sich auf Vergil, der wiederum auf Homer verwies: Die Wege der Übersetzung sind somit Wege der Kultur.
Die Wege der Übersetzung sind zugleich auch Wege der Macht – Griechisch, Latein, Arabisch, Volksmund. Die Tätigkeit des Übersetzers war eine politische: ein gekonnter Umgang mit Verschiedenartigkeiten, wonach die jeweils fremde Sprache aufgenommen und in eine andere umgewandelt wird. Die Schweiz und Genf sind babylonische Orte, an denen man täglich mehr als nur eine Sprache spricht – sofern nicht nur die eine Sprache Oberhand gewinnt, die gleichsam verkümmert erscheint: das globalisierte Englisch…
Über die kostbaren Papyri, Handschriften und Wiegendrucke, die häufig erstmalig zu bewundern sind, macht diese Ausstellung die Verschiedenartigkeit der Sprachen und die ebenso unterschiedlichen Sichtweisen auf die Welt erfahrbar.

fondationbodmer.ch

Erstauflage einer mehrsprachigen Bibelausgabe aus den Jahren 1514-1517 auf Hebräisch, Griechisch (Septuaginta), Latein (Vulgata), Chaldäisch (Targum Onkelos) für das Alte Testament sowie auf Griechisch und Latein für das Neue Testament. Stiftung Martin Bodmer.

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Dieser Beitrag stammt aus der Ausgabe Winter 2017

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