Charlie Chaplin
Mit Stock und Hut zu Weltruhm
text: Deirdre Vine
1915 war Charlie Chaplin, der mit seinen Kinofilmen Millionen begeisterte, der wahrscheinlich berühmteste Mann der Welt. Auch heute ist seine Popularität ungebrochen: In einer internationalen Umfrage von 1995 wählten Filmkritiker ihn zum besten Schauspieler der Geschichte des Films.
Aber nicht nur sie zeigten sich von ihm beeindruckt: Auch für Lenin war Chaplin der einzige Mann auf der Welt, den er gerne einmal kennenlernen wollte; der Schauspieler war befreundet mit Winston Churchill und traf George Bernard Shaw. J. M. Barrie, Erfinder von Peter Pan, und H. G. Wells waren Fans von ihm. Debussy lobte seinen Instinkt für Musik und Tanz. Für den Gründer der Keystone Studios Mack Sennett war er „einfach der beste Künstler aller Zeiten“. Weitere frühe Bewunderer waren Marcel Proust und Sigmund Freud. Bei so viel Lob war seine Selbstüberschätzung vielleicht eine zwangsläufige Nebenerscheinung: Prahlerischen Aussagen wie: „Ich bin sogar in Teilen der Welt bekannt, in der nicht mal Jesus Christus ein Begriff ist“, waren durchaus ernst gemeint.
Andererseits konnte er mit gutem Grund stolz auf seine enormen Erfolge sein. Anfang des 20. Jahrhunderts, als wöchentliche Kinobesuche zur Normalität gehörten, war Chaplin nicht nur der quasi erste weltweit bekannte Prominente, sondern trug dazu bei, den Film zur Kunstform zu erheben. 1916, in seinem dritten Jahr als Kinoschauspieler, war er mit $10.000 Wochengehalt der bestbezahlte Darsteller der Traumfabrik. Chaplins Tänze, Lieder, Puppen, Comics und Cocktails waren allgegenwärtig. Nach der Gründung von United Artists, seiner Filmproduktionsfirma, mit Douglas Fairbanks, Mary Pickford und D.W. Griffith 1919. wurde er zum ersten Schauspieler, der über jeden
Aspekt seiner Filme, von der Produktion, der Besetzung, über das Verfassen der Drehbücher bis hin zur musikalischen Untermalung, volle Kontrolle hatte. Der Film „Goldrausch“ von 1925, mit dem er, wie er selbst sagte, „in Erinnerung bleiben möchte“, zeigte einmal mehr seine Wirkung auf die Öffentlichkeit.
Laut seinem Biografen ist das Leben von Charlie Chaplin die vollendete
Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Geschichte. Sein Leben begann höchstwahrscheinlich am 16. April 1889 in einem Elendsviertel Südlondons. Eine Geburtsurkunde, die dies belegen könnte, wurde jedoch nie gefunden. In Interviews und in seiner 1964 veröffentlichten Autobiografie beschrieb Chaplin seine frühen Jahre als Kampf gegen die Armut. Seine Eltern waren Künstler an den Music Halls, britische Unterhaltungsstätten, die mit einem Restaurant oder einer Bar ausgestattet waren. Aber sein Vater entzog sich den Unterhaltszahlungen für den jungen Charles, weswegen seine Familie immer wieder in Armenhäusern Zuflucht finden musste. 1898 wurde seine Mutter Hannah in eine Nervenheilanstalt eingewiesen, wodurch Charlie und sein Halbbruder Sydney praktisch auf sich allein gestellt waren.
Schauspielerin Geraldine Chaplin erinnert sich daran, wie ihr Vater bei Besuchen in London über die Themse in den Süden zum ehemaligen Wohnort seiner Familie der Stadt fuhr und dort den restlichen Tag allein spazieren ging. „Er wollte nicht erkannt werden“, so seine Tochter. „Er wollte in seiner Melancholie nicht gestört werden. Er vergaß nie seine Herkunft. Die Angst vor der Armut hat ihn nie losgelassen. Er ermahnte uns stets: ‚Lernt immer fleißig, denn alles Geld der Welt kann von heute auf morgen weg sein.‘“
Chaplin selbst war Autodidakt. Mit sieben Jahren hatte er seinen ersten bezahlten Auftritt als Holzschuhtänzer in Music Halls. Mit zehn ging er von der Schule ab, um sich einer Varieté-Gruppe anzuschließen. Chaplin räumte ein, dass der Glaube an sich selbst entscheidend für sein Überleben war: „Die Überschwänglichkeit als Folge eines unerschütterlichen Selbstvertrauens ist dringend notwendig, sonst hat man keine Chance.“ Vielleicht liegt hier der Ursprung für seine berühmteste Filmfigur aus dem ergreifenden Werk „Der Tramp“, in dem er einen unerschütterlichen Vagabunden spielt, der sich nicht unterkriegen lässt und fröhlich seines Weges geht. „Man könnte Charlie Chaplin als Nachfolger von [Charles] Dickens bezeichnen“, so einer seiner Biografen Peter Ackroyd. „Beide hatten eine ähnlich schwere Kindheit, waren besessen von Geld, pflegten einen sehr autoritären Umgang mit ihren Mitmenschen, hatten einen starken Hang zur Sentimentalität, bewiesen aber auch eine gehörige Portion Galgenhumor.“ Wie seinen Tramp, könnte man den konservativ eingestellten Chaplin fast als Symbol des viktorianischen Zeitalters sehen.
Nach dem Kinoerfolg des ersten Tonfilms „Der Jazzsänger“ 1927 sträubte er sich 13 Jahre lang gegen die sogenannten „Talkies“. Einige seiner besten Filme in den darauf folgenden Jahren, seine beißende politische Satire „Der große Diktator“ (1940), „Monsieur Verdoux – Der Frauenmörder von Paris“ (1947) oder „Rampenlicht“ (1952), waren wohl eher innovative Variationen zu seinen Stummfilm-Meisterwerken „The Kid“ (1921), „Goldrausch“ (1925), „Der
Zirkus“ (1928) und „Lichter der
Großstadt“ (1931).
In einer mehr als 60 Jahre langen Karriere wurde Charlie Chaplin mit drei Oscars ausgezeichnet. Bei den ersten Academy Awards 1929 wurde er als Schauspieler, Drehbuchautor, Regisseur und Produzent des Films „Der Zirkus“ für seine „Vielseitigkeit und Genialität“ mit einem Oscar geehrt. Bei der Entgegennahme seines zweiten Ehrenoscar 1972 für „seinen unschätzbaren Verdienst um die Filmkunst, an deren Entwicklung zur Kunstform des Jahrhunderts er großen Anteil hatte“, erhielt er 12 Minuten stehende Ovationen – ein Rekord in der Geschichte der Academy Awards. Seinen dritten Oscar bekam er (gemeinsam mit Ray Rasch und Larry Russell) 1973 für „Rampenlicht“ in der Kategorie beste Filmmusik.
Der als Sympathisant des Kommunismus und der Sittenlosigkeit bezichtigte Chaplin, der 1952 die Vereinigten Staaten für die Europa-Premiere seines Films „Rampenlicht“ verließ, musste bei seiner Rückkehr feststellen, dass sein Wiedereinreisevisum aufgehoben worden war. Daraufhin zog er in die Schweiz und verbrachte die letzten 25 Jahre seines Lebens in Corsier-sur-Vevey, über der Ostspitze des Genfer Sees, wo er mit seiner vierten Frau Oona, Tochter des Bühnenautors Eugene O’Neill, die er 1943 geheiratet hatte, und ihren acht gemeinsamen Kindern in seiner Villa Manoir de Ban auf einem 14-Hektar-Anwesen wohnte und seine Arbeit als Filmemacher, Komponist und Autor fortsetzte. Am ersten Weihnachtsfeiertag 1977 starb Chaplin. Seine Witwe lebte bis zu ihrem Tod 1991 weiter in der Villa Manoir, die danach für einige Jahre von ihren Kindern Michael und Eugene und ihren Familien genutzt wurde. Derzeit wird mit dem etwa $45 Mio. teuren Umbau der Villa in das Museum „Chaplin’s World“, das seine Pforten 2016 öffnen soll, eine neue Ära eingeleitet. Mit der akribischen Restauration will man das ehemalige Zuhause von Charlie Chaplin möglichst genau wiederherstellen. In einem neuen Gebäude auf dem Anwesen sollen nachgestellte Sets seiner Filme Platz finden sowie umfangreiche Foto- und Dokumentensammlungen zur Veranschaulichung seines kometenhaften Aufstiegs und seiner denkwürdigen Rollen ausgestellt werden – eine gebührende Hommage an Chaplin, ein Mann, der sich durch einige der besten Filme aller Zeiten unsterblich gemacht hat.
Szenenbild aus „Der Zirkus“ von 1928; berühmte Szene aus „Moderne Zeiten“ von 1936
Szenenbild aus „Der Zirkus“ von 1928; berühmte Szene aus „Moderne Zeiten“ von 1936; mit Boxgegner am Set von „Lichter der Großstadt“, 1931; Szene mit Phyllis Allen aus „Zahltag“, 1922. Szene aus „The Kid“ mit Tom Wilson (Polizist) und Jackie Coogan; Chaplin in „Goldrausch“ von 1925; Chaplin in der Rolle des Monsieur Verdoux (1947) mit Martha Raye; 1920 am Set von „The Kid“. Chaplin als „Der große Diktator“ von 1940; Szenenfoota aus „Der Abenteurer“ aus dem Jahr 1917; in „Rampenlicht“ von 1952.
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chaplin-Kult in Indien
„Charlie Chaplin ist unser Held. Jedes Jahr feiern wir seinen Geburtstag mit einer Parade”, so Ashok Aswani, Gründer des Charlie Circle, einem Klub, der seit 1973 in der Hafenstadt Adipur im Staat Gujarat in West-Indien den Geburtstag der Leinwandlegende zelebriert.
© Aashit Desai/Demotix/Corbis
In zerknitterten schwarzen Anzügen, mit Stöcken in der Hand und Melonen auf dem Kopf ziehen die Chaplin-Imitatoren durch die Straßen von Adipur.