Durch die Linse

Die Stimme von 108 Großmüttern aus den Kulturen der Welt

Reisen waren für den Fotografen Joseph Hunwick immer eine der Grundlagen seiner Arbeit. Sein aktuelles Projekt ist dabei aber das bisher ambitionierteste: Dokumentaraufnahmen von 108 Großmüttern aus indigenen Stämmen auf fünf Kontinenten, die bislang nie die Möglichkeit hatten, sich öffentlich mitzuteilen. Ihr Alltag war nie gewöhnlich, doch dramatische Veränderungen prägen ihre jüngsten Erinnerungen. Eine exklusive Vorschau auf Hunwicks erste Serie, die Großmütter aus Black Mesa in Arizona, sehen Sie auf den folgenden Seiten…

text Deirdre Vine fotos Joseph Hunwick

CREDIT © Joseph Hunwick 2017

Jede dieser Frauen ist eine Hüterin der Tradition“, sagt Dokumentarfotograf Joseph Hunwick, der Großmüttern aus aller Welt, die bisher kein Sprachrohr hatten, eine Stimme gibt. „Durch die mit Fotos unterlegten Schilderungen von Großmüttern indigener Volksgruppen erhalten wir intime Einblicke in ihr Leben, ihr Umfeld, ihre Erfahrungen und ihre Erinnerungen. Die Fotografie ist eine tolle Möglichkeit, Menschen miteinander zu verbinden. Ich möchte auf die uns einenden Fäden aufmerksam machen, dabei helfen, die traditionellen Lebensweisen besser zu verstehen, sie zu beschützen und zu erhalten, und vielleicht die Menschen der westlichen Welt dazu bringen, über den Umgang mit der älteren Generation nachzudenken.“
Die Großmütter aus Black Mesa – die Objekte seines ersten Fotoshootings für das Projekt – wurden in ihrer Muttersprache Navajo interviewt und dabei gefilmt, erklärt Hunwick und spricht offen über ihre schweren Lebensumstände: „Sie haben trotz vieler Schikanen und ständig drohender Vertreibung hartnäckig an ihrer traditionellen Lebensweise festgehalten. Die Region Black Mesa birgt einige der größten Kohle- und Uranvorkommen. Für die Kohlegewinnung im Tagebau wird das Grundwasser angezapft, um die Kohle zu den Kraftwerken zu transportieren, wodurch die einst so üppigen Quellen austrocknen. Die auf dem Mesa verbliebenen Familien, die ironischerweise keinen Strom haben, müssen ihr Wasser nun in der nächsten Stadt kaufen und mühevoll zurücktransportieren.“
Hunwicks Porträts wirken wie Schnappschüsse. In Wirklichkeit aber sind sie das Ergebnis eines langen Prozesses, zu dem eine formelle Vorstellung durch einen Vermittler gehört, gefolgt von einer Wartephase, in der er langsam Vertrauen zu seinen Fotoobjekten aufbaut. Die Lebensgeschichten der Frauen lassen uns in ihren Alltag eintauchen. In ihren spannenden Schilderungen erkennen wir ehrfürchtig, dass sie einen Teil unserer Geschichte ausmachen. Immer wieder hört man jedoch heraus, wie die von außen herangetragenen Veränderungen ihnen zu schaffen machen. Der Preis, den einfache Menschen für die Entscheidungen der Mächtigen zahlen, ist ein zentrales Element in Hunwicks Werken.
Das Projekt „108 Großmütter“ fand seinen Ursprung Ende 2015 und wird vermutlich frühestens Ende 2018 fertig werden. „Es ist ein ambitioniertes Projekt, welches sich nur mit Fördermitteln und gut abgestimmten Zielsetzungen realisieren lässt. Es ist wichtig, dass die Werke der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, damit den Großmüttern auch Gehör verschafft wird“, erklärt Hunwick, der sein Projekt so gestalten möchte, dass daraus ein ganzer Bildband mit Zitaten der Großmütter, eine Multimedia-Ausstellung, eine Website und ein die Film- und Fotoaufnahmen begleitender Blog entstehen kann. In der nächsten Phase, die bereits in vollem Gange ist, möchte Hunwick Großmütter aus Stämmen in Mittel-
und Südamerika – vermutlich Mexiko und Brasilien – als Motiv und Interviewpartner gewinnen. Aber Hunwick plant auch eine Rückkehr nach Nordamerika: „Ich möchte einen weiteren indianischen Stamm in die Fotodokumentation einbeziehen, vielleicht die Hopi in Nordost-Arizona.“ Danach stehen Aufnahmen in Afrika, Australasien, Asien und Europa auf dem Plan.
Joseph Hunwick wurde das Reisen bereits in die Wiege gelegt. Nur ein paar Wochen nach seiner Geburt brach er mit seinen Eltern von London nach Nigeria auf, wo sein Vater John, der damals gerade seinen Abschluss in Arabistik an der School of Oriental and African Studies gemacht hat, die erste von vielen Stellen als Dozent im Ausland antreten sollte. Hunwick Senior wurde ein renommierter Wissenschaftler. Er hatte sich auf die Geschichte und Kultur des islamischen Afrika spezialisiert.
Wohin ihn seine Arbeit auch verschlug, seine Familie begleitete ihn. In seinem Buch „Timbuktu und seine verborgenen Schätze“, das mit Josephs sehr bewegenden Bildern illustriert wurde, erhält nun auch ein breiterer Leserkreis Zugang zu seinen 40 Jahre langen Forschungen über die Menschen und Handschriften Timbuktus.
Die Verschiedenartigkeit der in Hunwicks 25-jähriger Karriere entstandenen Werke ist offensichtlich. Die Fotos des
in den Bereichen der Mode-, Porträt- und Dokumentarfotografie tätigen Künstlers sind in führenden internationalen Publikationen und Werbekam-pagnen erschienen.
Sein Interesse an der Fotografie wurde bereits mit sechs Jahren geweckt, als er in den Besitz einer Kodak Brownie 127 kam. „Der faszinierendste Augenblick war, als ich mit 14 oder 15 Jahren in Ghana, wo mein Vater zu der Zeit arbeitete, zum ersten Mal bei der Entwicklung eines Fotos dabei war“, erinnert er sich. „Von dem Moment an war meine Liebe für die Alchemie der Fotografie entfacht, die auf einem weißen Blatt Papier plötzlich ein Bild hervorzauberte.“ Vor seiner Karriere studierte Hunwick Massenkommunikation an der American University in Kairo. „Ich fing als Werbefotograf in Kairo an, und während meiner acht Jahre dort baute ich mir ein großes Portfolio an sozialdokumentarischen Porträtaufnahmen auf.“ Erste Erfahrungen als Modefotograf machte er dann nach dem Umzug in die Hauptstadt Kataloniens, Barcelona, eine Metropole, für die er immer noch eine starke Affinität hegt und in der er möglichst viel Zeit verbringt, wenn er nicht gerade beruflich unterwegs ist oder sich in Großbritannien aufhält. Die nächsten Jahre sieht es allerdings eher so aus, als würde Hunwick die meiste Zeit
mit den Großmüttern anderer Menschen verbringen.
josephhunwick.com

 

„Ich  möchte einen weiteren indianischen Stamm in die Fotodokumentation einbeziehen, vielleicht die Hopi in Nordost-Arizona“
Joseph Hunwick

Großmutter Caroline Tohannie (80) gehört mit zu den ältesten Frauen, die Joseph Hunwick in Black Mesa interviewte.

Fotofakten: Canon 5DS, Objektiv
24-70 mm, Brennweite 70 mm, f/2.8 II USM. Alle Bilder entstanden bei Tageslicht vor Ort in Black Mesa, Arizona.
„Wir leben nicht in Frieden mit uns selbst, der Umwelt und Mutter Erde. die Kinder hören nicht mehr auf uns, sie achten nicht mehr auf ihre Kleidung. Die Mädchen tragen keine traditionelle Navajo-Kleider und Perlen mehr – heute tragen sie Hosen. Mit dieser schweren Bürde auf Mutter Natur, mit all den Fahrzeugen auf dieser Erde und mit all den Konflikten in der Welt, fühlt sich die Erde schwer und belastet an.
Wir töten Mutter Erde und ich sehe keine Möglichkeit, zu den alten Zeiten zurückzukehren und wieder ein Gleichgewicht herzustellen. Für die Zukunft glaube ich also nicht, dass wir unser traditionelles Leben zurückbekommen können. Diese kommenden Zeiten wurden in unseren stammesgeschichten vorausgesagt.“

GROSSMUTTER CAROLINE

Mary Kee (74) sagt, sie bleibt auf dem Black Mesa, um ihr Land zu schützen. „Wir halten unsere Enkel an, ihre Häuser hier zu bauen und das Land zu behalten.“

Fotofakten: Verschlusszeit 1/125, Blende f2.8, Brenn-weite 70 mm, ISO 640.
„Als Teenager brachten uns unsere Großeltern bei, wie man blauen Mais anbaut und Navajo-Kuchen backt. Wir pflanzten Mais und verschiedene Kürbisarten. Ich war etwa vier Jahre alt, als meine Mutter verstarb. Mit sieben Jahren ging ich in die Schule. Danach blieb ich zu Hause und half meiner Schwester beim Hüten der Schafe, beim Weben und Kardieren der Wolle und beim Herstellen von Teppichen. Wir bringen unseren Enkeln bei, wie man Mais anbaut und Schafe hütet, denn das sichert unser Überleben, das ist die Navajo-Lebensart. Man verschläft nicht, und man ist fleißig…
Konflikte werden ausdiskutiert. Wenn sie nicht hören wollen, rauchen wir die Friedenspfeife oder bitten einen Medizinmann bzw. eine Medizinfrau zu singen und denjenigen zu heilen. Beten hilft bei jedem Konflikt.“

GROSSMUTTER MARY

„Wir stehen früh auf, gehen joggen – so bekommen wir einen freien Kopf und werden nicht träge“, sagt Hannah Claw (87).

Fotofakten:Verschlusszeit 1/160, Blende f2.8,  Brenn-weite 65 mm, ISO 640.
„man muss denken und vorausplanen – das wurde mir beigebracht: Unabhängigkeit und zukunftsorientiertes Denken.
Beim Hüten der Schafe fand ich immer diverse essbare Pflanzen. Also hab ich Waldbeeren gesammelt, sie mit nach Hause genommen und gekocht. Es gab immer etwas zu essen, auch wenn es keine Geschäfte gab, zum Beispiel Indianer-Knoblauch, eine Pflanze, aus der man Zerealien machte. An Nahrung mangelte es uns damals wirklich nicht.“

GROSSMUTTER HANNAH

Elouise Brown stammt selbst nicht aus Black Mesa, aber sie stellte Joseph Hunwick die Navajo-Großmütter aus Black Mesa vor und war seine Dolmetscherin. „Als ich die Frauen  hier kennenlernte und erfuhr, was sie durchmachen mussten, kamen mir die Tränen. Ich konnte nicht einfach wieder gehen und sie sich selbst überlassen.“ konnte nicht einfach wieder gehen und sie sich selbst überlassen.“

Fotofakten: Verschlusszeit 1/160, Blende f2.8,  Brenn-weite 28 mm, ISO 320.
„Meine Großeltern väterlicherseits brachten mir bei, wie man sich gegenüber Mutter Erde und Vater Himmel sowie der Umwelt zu verhalten hatte. Wie man seinem gesamten Umfeld Respekt erweist, sich um jedes Lebewesen kümmert, einschließlich der Pflanzen, wie man den Jahreszeiten, dem Wind, Regen und besonders dem Donner Achtung entgegenbringt…
Ich habe das Gefühl, ich gehöre weder zur jüngeren Generation noch zur älteren. Ich kenne die westliche Lebensweise und spreche fließend Navajo und Englisch, ich kann also als Vermittlerin agieren. Aber man darf nie seine Herkunft oder die ältere Generation vergessen und sollte immer mit ihnen kommunizieren.“

GROSSMUTTER ELOUISE

Rena Babbitt Lane (80). „Sie ist eine Großmutter, zu der ich aufschaue; sie ist eine sehr starke Frau“, sagt Eloise Brown.

Fotofakten: Verschlusszeit 1/15, Blende f4.0, Brenn-weite 70 mm, ISO 400.

„Damals hatten wir keine Probleme wegen dem Land. Die Menschen lebten in Frieden, es gab keine großen Streits. Ich weiß aber noch, dass ich mit zehn Jahren mit ansehen musste, wie weiße Männer kamen und uns all unsere Pferde nahmen, da wir so viele hatten. Zudem erzählte man uns, als ich kleiner war, dass wir das Land überweiden würden. Darum kam die Regierung und führte viele unserer Schafe und Ziegen runter auf den Middle Mesa und erschoss sie.
Ich erinnere mich auch, dass das Wetter sich verändert hat. Jetzt sieht das Land ausgezehrt und karg aus. Früher gab es viele Weiher für das Vieh. Jetzt regnet es nicht mehr. Dafür hören wir von durch Blitze entfachten Feuern. Die Erde ist definitiv nicht mehr dieselbe.“

GROSSMUTTER RENA

„Um an Wasser zu gelangen, müssen wir heute weite Strecken zurücklegen“, sagt Glena Begay (84). Der Grund: Durch Kohleabbau ist der Grundwasserspiegel im der Region gesunken.

Fotofakten: Verschlusszeit 1/160, Blende f2.8, Brenn-weite 57 mm, ISO 320.

„Wir hatten früher viel Regen und üppige Vegetation. Heute haben wir nicht mehr genug, und das Pflanzenwachstum ist sehr zurückgegangen. Das hat unser Leben verändert. Wir haben viele gesundheitliche Probleme. Das Bergbauunternehmen nutzt das Wasser für die Schlammleitung, die zum Mohave-Kraftwerk führt. Das trocknet unser Land aus und verschmutzt unser Wasser. Zudem wird unsere Luft durch die Kohlesprengungen verunreinigt. Der durch den Wind aufgewirbelte Staub wird von der Luft aufgenommen und unser Vieh wird krank.  und wir haben keinen Strom, wir leben wie vor langer Zeit. Ich frage mich, wie meine Enkel leben sollen, wenn das Land weiter zerstört wird.“

GROSSMUTTER GLENA

Die Arme von Caroline Tohannie mit traditionellen Türkis-Armreifen umschließen eine typische handgewebte Navajo-Decke. 

Fotofakten: Verschlusszeit 1/160, Blende f2.8, Brennweite 70 mm, ISO 320.
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Dieser Artikel stammt aus der Ausgabe Frühling 2017

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