Etwas bleibt

„Ich weiß noch, wie ich das erste Mal auf die Straße ging, um Fotos zu machen“, erinnerte sich Fotografin Mary Ellen Mark einst. „Ich war mitten in Philadelphia und ging einfach spazieren, kam mit den Leuten in Kontakt, fotografierte sie und dachte: Das finde ich toll. Das möchte ich immer machen.“ Das war bereits Anfang der 60er-Jahre. Später wurde sie zu einer der besten Dokumentarfotografen ihrer Zeit. Als sie im vergangenen Jahr im Alter von 75 Jahren verstarb, hinterließ sie ein beeindruckendes Vermächtnis an unge-stellten und berührenden Bildern.

von Deirdre Vine

Mary Ellen Mark ist insbesondere dafür bekannt, das Leben von Prostituierten, Drogenabhängigen, psychisch Kranken und Obdachlosen zu dokumentieren, all jene, die sie selbst als „die Menschen am Rande“ bezeichnete. „Ich mache traurige Fotos“, sagte sie 2005. „Sie strahlen große Sensibilität aus“ Auch wenn ihr Interesse vornehmlich der Fotografie von Menschen galt, hatte sie zeitgleich Erfolg als Standfotografin in Hollywood. Im Rahmen ihrer Fotoarbeiten am Set im Oregon State Hospital für „Einer flog über das Kuckucksnest“ kam sie mit den Patientinnen aus der geschlossenen Psychiatrie in Kontakt. Als sie drei Jahre später für einen Monat zurückkehrte, entstanden genug Aufnahmen für ein Buch („Ward 81“, 1979). Später folgte eine Serie über die Bordelle von Mumbai („Falkland Road“, 1981): „In puncto Vertrauensbildung war dies vermutlich einer der schwersten Aufträge, die ich jemals angenommen habe.“

Die am 20. März 1940 in Philadelphia geborene Mary Ellen Mark gestand, dass sie in ihrer High-School-Zeit zwei Hauptziele verfolgte: Leiterin der Cheerleader-Gruppe zu werden und sich bei den Jungs beliebt zu machen. Beides ist ihr gelungen. Sie absolvierte ihr Studium in Kunst und Kunstgeschichte an der University of Pennsylvania und machte 1964 ihren Abschluss in Fotojournalismus. Laut eigener Aussagen dienten ihr insbesondere die Bilder von Cartier-Bresson, Robert Frank, Lisette Model und Irving Penn als Inspirationsquelle. Ihre Werke wurden in Printmedien wie dem Stern, Life, der New York Times, Vanity Fair, dem New Yorker, Rolling Stone und in 18 Büchern veröffentlicht, die im Laufe von vier Jahrzehnten während ihrer Arbeit an Projekten für Zeitschriften und Zeitungen entstanden sind. Ihre Werke wurden weltweit ausgestellt und mit zahlreichen Preisen gewürdigt, unter anderem mit dem Outstanding Contribution Photography Award der World Photography Organisation 2014 sowie dem Lifetime Achievement in Photography Award 2014 von George Eastman House.

Mary Ellen Mark beschrieb sich selbst als unpolitisch. Sie beharrte darauf, dass ihre Bilder nicht „aufrütteln“ sollen und dass sie sich keinerlei Illusionen darüber mache, dass ihre Bilder die Gesellschaft konkret verändern könnten. Stattdessen war sie bestrebt, das Erlebnis der Betrachter zu erweitern: „Man bietet ihnen die Möglichkeit, etwas zu sehen, das sie normalerweise nie gesehen bzw. über das sie sich vielleicht keine Gedanken gemacht hätten.”

Mary Ellen Mark war alles andere als distanziert zu ihren Werken: Sie schloss Freundschaften mit den Menschen in ihren Bildern – und das spiegelt sich in ihrem Werk wider. So erinnert sich Melissa Harris, Herausgeberin zahlreicher Bücher von Mary Ellen Mark: „Sie war eine großartige Geschichtenerzählerin. Es ist ihr gelungen, sehr genau zu vermitteln, wen sie da fotografiert und wie diese Menschen leben. Und zugleich hat sie uns Einblicke in deren Innerstes gegeben. Es gibt nur wenige Fotografen, die dazu in der Lage sind. Ihr Werk ist aus tiefstem Herzen menschlich.”

„Ich mag Portraits, die mir etwas über die abgelichtete Person erzählen und nicht darüber, wie toll der Fotograf ist.“

MARY ELLEN MARK

Zirkusdirektor mit Elefant, Ahmedabad, Indien, 1990

Ram Prakash Singh, Zirkusdirektor des „Great Golden Circus“ mit seinem geliebten Elefanten Shyama, aufgenommen 1990 in Ahmedabad.
„Ich liebe Indien und ich liebe den Zirkus – darum war es eine unglaubliche Erfahrung, durch Indien
zu reisen und 18 Zirkusse zu fotografieren”, so
Mary Ellen Mark.

Tanzende Frau, Senior Citizens Center, Miami Beach, Florida, USA, 1979

Mary Ellen Mark wurde vom Stern beauftragt, das Leben in South Beach in Farbe einzufangen. „Bei der Mehrheit der Menschen, die seinerzeit dort lebten, handelte es sich um ältere Leute. In jedem Gemeindezentrum wurden Aktivitäten angeboten und allabendlich wurde getanzt“, so Mary Ellen Mark.

Tiny in ihrem HalloweenKostüm, Seattle, Washington, USA, 1983

Als Teil der Fotoreportage „Streetwise“ wurde dieses Foto zu einem der berühmtesten Bilder von Mary Ellen Mark. Das Straßenmädchen Tiny war 14 Jahre alt, als die Aufnahme entstand. Ihr Geld verdiente sie, indem sie hin und wieder ihren Körper verkaufte. Sie trägt ein selbstgemachtes Kleid, um wie eine französische Prostituierte auszusehen. Beeindruckt von ihrer Gelassenheit vor der Kamera, baute Mary Ellen Mark eine Freundschaft zu ihr auf und fotografierte sie im Laufe der Jahre weiter. 20 Jahre später war Tiny Mutter von neun Kindern.

Clayton Moore, ehemaliger Lone Ranger, Los Angeles, Kalifornien, USA, 1992

Mary Ellen Mark wollte eine Portrait-Reihe über ehemalige Film-Cowboys machen: „Ich habe Clayton Moore schon immer in der von ihm in den TV-Western der 50er-Jahre gespielten Rolle als Lone Ranger bewundert. Ich habe ihn bei sich zu Hause fotografiert. Das Haus war zwar modern, aber die Rolle des einsamen Rangers konnte er nicht ablegen. Er bestand darauf, auf allen Bildern seine berühmte Maske aufzusetzen. Ich musste alles geben, damit er sich vor der Kamera und mir entspannte, denn er war überaus paranoid.“

Kamla hinter dem Vorhang mit einem Kunden, Bombay, Indien, 1978

Das Interesse für die Menschen am Rande der Gesellschaft zog sich als roter Faden durch Mary Ellen Marks Werdegang. In ihrem
Buch „Falkland Road: Prostitutes of Bombay“ (1981) zeigt sie Bilder von Frauen und ihren Freiern auf der berühmt-berüchtigten Rotlichtmeile des heutigen Mumbai.

Mann mit Schnauzbart, Istanbul, Türkei, 1965

Ein frühes Bild, das während der Motivsuche Mary Ellen Marks auf den Straßen Istanbuls entstand. Die in späteren Arbeiten zu
sehenden Themen und Stärken waren bereits erkennbar: trockener Humor, effektvolle Lichtgestaltung und eine gelassene Eleganz
in der Pose des Mannes.

Flusspferd und Artistin, Great Rayman Circus, Madras, Indien, 1989

Das Flusspferd scheint ebenso wie seine Dompteuse für die Kamera zu posieren. Die schlichte Stoffwand des Zirkuszelts erinnert an die gemalten Kulissen antiquierter Fotostudios und verstärkt die Wirkung Bildes als förmliches Portrait.

Die Gigee-Schwestern vor dem Besuch bei ihrer Mutter, Osceola, Pennsylvania, USA, 1990

Deborah, 5 Jahre, Daisy, 8 Jahre, und Dixie, 6 Jahre, haben sich für den Besuch bei ihrer Stiefmutter und der neugeborenen Halbschwester im Krankenhaus hübsch gemacht. Mit dem Baby wächst die Zahl der Gigee-Wohnwagenbewohner auf 10. Die Frage, wie es ist, in Amerika aufzuwachsen, zieht sich wie ein roter Faden durch Mary Ellen Marks Werke.

Drei Akrobatinnen, Vasquez Brothers Circus, Mexico City, 1997

Die Kostüme lassen diese drei Akrobatinnen als Variation ein und derselben Person erscheinen. Unsere
Aufmerksamkeit wird auf die Details gelenkt: die Gesichtsform der Frauen, die enormen Wimpern der beiden links Stehenden und das zerzauste Haar der Frau rechts.

Mutter Theresa im Heim für Todkranke, Kalkutta, Indien, 1980

In den 80er-Jahren reiste Mary Ellen Mark zweimal nach Kalkutta, um Mutter Theresa zu fotografieren: „Sie schrieb mir eine Nachricht mit den Worten: ‚Liebe Schwestern, bitte gestattet Mary Mark, Fotos zu machen. Gott schütze euch. Mutter Theresa.‘ Anschließend konnte ich all ihre Missionen besuchen, um zu fotografieren.“

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Dieser Artikel stammt aus der Ausgabe Frühling 2017

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