Spiegel der Menschheit
Seine 60-jährige, das goldene Zeitalter des Fotojournalismus umspannende Karriere führte den Fotografen Thomas Höpker auf alle Kontinente dieser Erde. Er fotografierte einige der einflussreichsten Menschen und bewegendsten Ereignisse unserer Zeit, aber hält mit seiner Kamera auch unbeachtete, oft mysteriöse und verborgene Details des Alltags fest. Ungestellt und frei von Sensationslust, sind seine Bilder stets sachlich, oft mit einer Prise Humor und Empathie. „Ich bin ein Verfechter des spontanen und authentischen Fotojournalismus“, so Höpker. „Ich fotografiere, was da ist.“ Im Exklusivinterview mit Das Erbe unserer Welt spricht er über seine Arbeit
Thomas Höpker im Gespräch mit Deirdre Vine
Thomas Höpker ist ein bedeutender Fotojournalist, aber der Mann hinter der Kamera bleibt bescheiden: „Ich glaube, Henri Cartier-Bresson sagte einmal, dass ein guter Fotograf wie eine Fliege an der Wand sein sollte: Sie sieht selbst alles, wird aber nicht wahrgenommen.“ Cartier-Bresson war einer der Gründer von Magnum, der renommiertesten Fotoagentur der Welt. Höpker schloss sich ihr 1989 an und leitete sie von 2003 bis 2007. Als die Agentur 1970 das erste Mal an ihn herantrat, lehnte er ihr Angebot zunächst ab: „Ich bekam einen Brief Elliot Erwitt, dem damaligen Präsidenten von Magnum, den ich als wunderbaren Fotografen kannte. Das Angebot kostete mich einige schlaflose Nächte, aber ich hatte einen Vertrag mit dem Stern, verdiente gut und hatte tolle Reisemöglichkeiten. Erst beim zweiten Anlauf viele Jahre später schloss ich mich der Agentur an. Inzwischen könnte ich mir ein Leben ohne Magnum nicht mehr vorstellen.“
Der 1936 in München geborene Höpker zog Mitte der 70er-Jahre in die USA und lebte dort in New York bzw. Southampton, Long Island. Am Anfang seines Berufslebens studierte er zunächst Archäologie und Geschichte, wusste aber laut eigener Aussage schon, dass er eigentlich Fotograf werden wollte. Eine erste Tür in diesem Bereich öffnete sich, als er im Rahmen seiner Reporter-Tätigkeit für die Münchener Illustrierte auch Bildmaterial liefern sollte. Als die Zeitschrift drei Jahre später eingestellt wurde, ging er zum Hamburger Magazin Kristall, das, wie er sagt, als zwei-wöchentliche Illustrierte viel Platz zu füllen hatte. Sie hatten auch die Mittel, um mich und einen Journalisten zu Projekten rund um die Welt zu schicken.“ 1964 fing er als Vollzeit-Fotograf beim Stern an. (Später, zwischen 1987 und 1989, sollte er als Art Director der Zeitschrift noch größeren Einfluss auf ihre Optik haben.) Im Stern veröffentlichte er seine inzwischen legendäre Reportage über Muhammad Ali: „Eines der Fotos, das mit der Faust, wurde schließlich zu der wohl wichtigsten Aufnahme meiner Karriere. Es war einer dieser spontanen Momente.“
Höpker besteht darauf, dass er kein Künstler sei, sondern Bildlieferant. Doch seine Fotos haben die Weihen von Museen und privaten Sammlern erhalten. Wir haben ihn gefragt, ob er das Gefühl habe, dass seine Bilder besser in den Printmedien zur Geltung kommen oder gerahmt an der Wand. „Das ist eine interessante Frage, weil ich im Rahmen meiner Arbeit für Zeitungen und Zeitschriften die Fotos als visuelle Informationsquelle und Wegwerfprodukt aufnehme. Ich verfolge dabei nie ein künstlerisches Ziel und will kein nachhaltiges Statement machen. Fotoausstellungen sind eine relativ neue, nach der Hochphase des Fotojournalismus aufgekommene Entwicklung. Natürlich sind viele Fotografen auch reine Künstler, aber ich wollte immer mehr ein Reporter als ein Künstler sein. Ich war schon immer Korrespondent: Jemand, der reist und das Leben anderer Menschen in anderen Teilen der Erde zeigt. Ich erzähle Geschichten. Wenn meine Bilder den Menschen gefallen und sie sie sich an die Wand hängen möchten, freue ich mich darüber, aber es ist nicht mein Ziel. Der Übergang ist teilweise fließend; wir haben gleichermaßen wunderbare Künstler als auch wunderbare Reporter bei Magnum. Bei einer kunstfertigen Komposition des Fotos gilt dieses als Kunstwerk. Dann geht es über den Zweck der Berichterstattung hinaus. Bilder können wunderbar sein, weil sie eine Geschichte erzählen oder aber weil sie schön sind.“
Auf die Frage, welches seiner Fotos die größten Auswirkungen für ihn persönlich hatte, antwortete er: „Das ist leicht, das ist meine inzwischen berühmte Aufnahme vom 11. September 2001, auf der fünf junge Menschen sich scheinbar unbekümmert am Ufer des East River in Brooklyn unterhalten, ohne dabei der schwarzen Rauchwolke auf der anderen Seite des Wassers Beachtung zu schenken. Ich war an dem Morgen in meinen Apartment in New York, da wir unsere jährliche Magnum-Sitzung hatten. Es waren also etwas 25 Fotografen in der Stadt, was an sich schon ungewöhnlich ist, da sie in der Regel überall auf der Welt verteilt ihrer Arbeit nachgehen. Ein Redakteur rief an und sagte: „Schau mal aus dem Fenster. Irgendetwas Furchtbares spielt sich da ab. Ich weiß allerdings nicht was.“ Anfangs dachten alle an einen Unfall. Die U-Bahn fuhr nicht, also stieg ich in mein Auto und fuhr in Brooklyn am East River entlang, um zu schauen, was auf der anderen Seite los war. Ich sah eine Gruppe Menschen in einem kleinen Garten sitzen, stieg aus dem Auto und machte drei Aufnahmen, aber hielt sie für zu friedlich. Ich war nicht zufrieden mit ihnen und so gerieten sie in den Tagen nach der Katastrophe auch prompt in Vergessenheit. Jahre später suchte ein Kurator aus München in meinem Studioarchiv nach passenden Fotos für eine anstehende Ausstellung und stieß auf das Bild…“
Erst 2006, am fünften Jahrestag des Anschlags, wurde die Aufnahme veröffentlicht und sorgte sofort für große Aufregung: „Im Laufe der Zeit wurde sie Thema hitziger Debatten und war der Aufhänger für zahlreiche Artikel und TV-Interviews. Einige der abgebildeten Personen stören sich daran, dass ich nicht um Erlaubnis gefragt habe. Aber dann wäre die Aufnahme ja eine Lüge gewesen.“ Heute gilt sie als großes Historienbild dieses Tages. Das Foto dokumentiert ein verhängnisvolles historisches Event und zeigt in diesem Zusammenhang einen universellen Fakt: Das Leben kommt trotz eines verheerenden Anschlags oder eines schockierenden Terroraktes nicht zum Stillstand. „Ich muss einen Nerv getroffen haben, dabei hätte ich das Foto beinahe weggeworfen.“
Ist er nach 60 Jahren Arbeit als Chronist großer Ereignisse optimistisch gestimmt, was die Zukunft der Menschheit betrifft? „Der Trend geht leider in keine positive Richtung“, seufzt er. Bei so viel Horror, so vielen bösen Menschen in Verbindung mit so vielen mächtigen Waffen ist es nicht leicht, sich seinen Optimismus zu bewahren. Für die Zukunft der Fotografie sieht Höpker die Demokratisierung der Bild-Lieferung und das allgemein stark angestiegene Interesse an Fotografie als positive Entwicklung: „Heutzutage hat fast jeder ein Fotohandy dabei, und es werden täglich Millionen von Aufnahmen gemacht, aber merkwürdigerweise gibt es deshalb nicht im gleichen Maße mehr qualitativ hochwertige Bilder, die eine Geschichte erzählen oder ein Gefühl vermitteln“, sagt Höpker. „Die Menschen verbringen so viel Zeit damit, sich Fotos anzusehen, dass sie die Welt nicht mehr wahrnehmen“, fügt er hinzu. „Darin sehe ich eine Gefahr.“
Folgen Sie Thomas Höpker auf Instagram und Facebook und erfahren Sie mehr über seine Bücher oder den kürzlich erschienenen Band über Muhammad Ali. Weitere Werke finden Sie auch auf seinem Magnum-Portfolio.
„Ich bin kein Künstler. Ich bin ein Bilderfabrikant“
Thomas Höepker
„Ich bin gern so lange wie möglich unsichtbar, mache lieber Schnappschüsse, statt gestellte Fotos. Bei Fotografie geht es um Momentaufnahmen“
Thomas HÖepker
NEW YORK CITY, 1981: ANDY WARHOL IN SEINER „WERKSTATT”, UNION SQUARE
„Ich hatte gehört, Warhol sei schwierig. Man musste mit Kommentaren wie „Sie haben zehn Minuten“ rechnen. So etwas war mir ja zuwider, aber ich war darauf vorbereitet. Ich gab ihm farbige Transparentfolien – rot, blau, gelb, grün – die er nacheinander vor sich halten sollte, und er war sofort ganz angetan, da er mit Grundfarben arbeitete und ich ihm sozusagen sein eigenes Medium in die Hand gab. Das machte ihn sehr kooperativ, fast schon zombiehaft.“
CHICAGO, 1966:
MUHAMMAD ALI, BOXWELTMEISTER IM SCHWERGEWICHT
Links: Streckt seine rechte Faust Richtng Kamera. Oben: Im Sprung über das Sicherungsgeländer
einer über den Chicago River führenden Brücke.
Höpker hatte 1966 in London, Chicago und später in Miami die einmalige Gelegenheit, Muhammad Ali [ehemals Cassius Clay] zu begleiten und Fotos von ihm zu machen. Er war fasziniert von der lebhaften Persönlichkeit und dem Esprit des Boxweltmeisters: „Im Laufe dieser Zeit wurden Ali und ich Freunde. Ich machte fünf oder sechs Reisen von teilweise ein bis zwei Monaten, um ihn zu sehen. Er ließ sich gern fotografieren, dabei alberte er viel herum, posierte aber nicht.“
BIHAR, INDIEN, 1967: HUNGERSNOT UND POCKENEPIDEMIE – DORFBEFOHNER VERLASSEN IHRE HÜTTEN UND BETTELN UM NAHRUNG
Höpker überzeugte den Herausgeber des Stern, ihn in den von Dürre, Hungersnot und Pocken heimgesuchten indischen Bundesstaat Bihar zu schicken: „Es war riskant. Niemand von der Zeitschrift wollte mich begleiten. Ich fuhr trotzdem und erlebte einige Horrorszenen. Das Dorf sah verlassen aus, doch als ich das Auto anhielt, kamen die, die noch in der Lage waren zu laufen, sofort auf mich zu. Ich machte ein paar Fotos und fuhr dann in die nächste Stadt, um ihnen dort etwas Mehl zu besorgen.“
HAMBURG, 1954: EINE ALTE FRAU IN EINEM SCHNEESTURM
„Ein Bild aus meiner Anfangszeit und eines der wenigen, das ich aus dieser Phase behalten habe. Ich war noch Schuljunge und mein Großvater hatte mir seine alte 9×12-Plattenkamera geschenkt, bei der man sich zum Fotografieren noch ein schwarzes Tuch über den Kopf legen musste. Die Fotos entwickelte ich in der Küche meiner Mutter. Wenn das Bild in der Hand erschien, war es schon fast magisch.“
PEKING, 1984: EINE ALTE FRAU
Höpker wandte sich bereits in den 60er-Jahren der Farbfotografie zu. „Dieses Bild entstand zur gleichen Zeit wie das Foto mit dem Vogel in Ritan Park. Ich habe nicht mit ihr gesprochen, es wäre ohnehin sinnlos gewesen, da sie mich nicht verstanden hätte. Ich ging einfach auf sie zu und schoss ein Foto.“
NEW YORK CITY, 1983: EINE FRAU HÖRT WÄHREND DER ST.-PATRICK’S-DAY-PARADE AUF DER FIFTH AVENUE RADIO
„Diese Frau sah sich die berühmte irische Parade an. Bei solchen Veranstaltungen fotografiert man, was das Zeug hält…“ Höpker zog 1975 nach New York. Mit seinen Fotos hat er die Stadt in ihrem vollen Facettenreichtum abgebildet, von der ethnischen Vielfalt ihrer Bevölkerung über ihre berühmten Sehenswürdigkeiten bis in ihre verborgenen Winkel.
BEGRÄBNISSTÄTTE IN EL TABIL IN QUICHÉ, GUATEMALA 1997:
EIN JUNGE BEI DER EXHUMIERUNG DER STERBLICHEN ÜBERRESTE
VON KRIEGSOPFERN
„Einige Jahre nach Ende des Bürgerkrieges in Guatemala arbeitete ich an einem Artikel. Dieser junge Mann schaute zu, während Anthropologen das Grab von Kriegsgefallenen öffneten. Er wusste, dass sein Vater dort begraben war und wurde Zeuge der Ausgrabung seines Skeletts – kein Wunder, dass er so erschüttert aussieht. Meine Frau und ich drehten zu diesem Thema auch einen Dokumentarfilm.
NEW YORK CITY, 1963: REKLAMETAFEL UND PASSAGIERE IM BUS
Höpker hat ein Auge für gefühlvolle und skurrile Momente: „Dieses Foto schoss ich auf einer meiner ersten Reisen nach New York. Man wandert stundenlang umher und nichts passiert. Dann stößt man plötzlich auf so ein Geschenk des Himmels. Man muss nur noch zur Kamera greifen und die richtige Einstellung wählen. Ich habe drei Bilder davon geschossen.“
PEKING, 1984: EIN WACHMANN UND EIN KIND MIT EINER BUGS-BUNNY-MASKE
„Ich habe keine Ahnung, wie dieses Kind zu der Bugs-Bunny-Maske kam, vielleicht wurde sie ihm von einem Freund oder Verwandten in Amerika oder Europa geschickt. Ich konnte nicht mal fragen, da ich kein Chinesisch spreche. Aber ich freue mich immer über überraschende Motive… eine im absoluten Kontrast zu ihrem Umfeld stehende Szene. Die Kamera ist immer neutral. Wenn ich ein lustiges Motiv sehe, kann ich ein lustiges Bild machen.“
BROOKLYN, NEW YORK, 11. SEPTEMBER 2001
Junge Menschen sitzen am East River, während nach dem Angriff auf das World Trade Center eine riesige Rauchwolke über Lower Manhattan aufsteigt. Anfangs schenkte Höpker dem Foto keine große Beachtung: „Es war zu weit entfernt und zu vage“, doch seine Veröffentlichung 2006 sorgte für hitzige Diskussionen. Aber er sagt: „An diesem Bild scheiden sich die Geister. Es ist sehr facettenreich, jeder sieht etwas anderes darin.“