Unsere fatale Sucht nach Wegwerfplastik

Es ist ein Wundermaterial und sein auf heutige Ausmaße gestiegener Einsatz zeigt, wie unglaublich nützlich es ist. In unseren Küchen und Supermärkten hat es bei der Eindämmung der Lebensmittelverschwendung geholfen. Es ist die Grundlage für viele bahnbrechende medizinische Entwicklungen, gehört zu einer neuen Ära des kraftstoffeffizienten Transports und ist der neueste Trend in erneuerbaren Energietechnologien wie Solarmodulen. Wären Kunststoffe darauf beschränkt, gäbe es gar kein Problem. Leider aber gibt es auch eine andere Seite: Es herrscht weltweit geradezu eine Sucht nach den schlimmsten aller Kunststoffarten: nämlich denen, die man nur sekundenlang benutzt und dann wegwirft…

Erik Solheim, Exekutivdirektor das UN-Umweltprogramms

Die Zahlen allein sind erschreckend: 12 Millionen Tonnen Plastikmüll landen jährlich in unseren Meeren, schaden Pflanzen, Tieren, Küstengemeinden und finden ihren Weg in unsere Nahrungskette. Die Folgen sind überall auf der Welt zu sehen. Durch Plastiktüten erstickte Wale werden an Land gespült. Abenteuerlustige Wassersportler der Volvo Ocean Race haben Teile einer Styroporverpackung im Südpolarmeer, einem der entlegensten Orte der Erde, schwimmen sehen. Selbst im Tafelwasser, wie Tests aus aller Herren Länder zeigten, sind mikroskopische Kunststoffpartikel enthalten, und zwar ausnahmslos in jeder Probe. Unsere Meere, von den Tiefen des Mariannengrabens bis zu den patagonischen Kanälen, werden langsam zu einer gigantischen Plastiksuppe.
Bei einem Besuch im indischen Mumbai sah ich den durch die Kunststoffverschmutzung angerichteten Schaden mit eigenen Augen. Am Versova-Strand veranlasste der furchtbare Anblick des mit Plastikmüll übersäten Sandes, den lokalen Anwalt Afroz Shah eine wöchentliche Müllsammelaktion zu organisieren. Seit Oktober 2015 haben er und seine ständig wachsende Armee aus Freiwilligen aus jeder Gesellschaftsschicht mehr als 7.000 Tonnen Abfall gesammelt. Inzwischen haben sie Müllsammelaktionen an 13 weiteren Stränden organisiert und inspirieren ähnliche Initiativen auf aller Welt Diese Art der Freiwilligen-Tätigkeit ist Grund zur Freude, und wir müssen alles tun, um die Eigeninitiative der Bürger zu unterstützen. Aber es ist leider traurige Realität, dass Plastik auch weiter an unsere Strände gespült wird. Darum ist es höchste Zeit, dass wir die Botschaft dessen verstehen: Bereits am Beginn der Kette muss ein Umdenken vollzogen werden. Wir müssen verhindern, dass Kunststoff in unsere Meere gelangt. Denn ähnlich wie beim Klimawandel gilt auch hier: Ist der Schaden erst mal angerichtet, kann er nur äußerst schwer rückgängig gemacht werden.
Selbst wenn jeder Einzelne von uns tut, was er kann, um seinen eigenen Plastikmüll zu reduzieren – und das ist selbstverständlich ein Muss – ist die aktuelle Flut an Einwegkunststoffen erdrückend. Die globale Kunststoffproduktion, von der etwa ein Drittel nicht recycelbar ist, nimmt schnell zu. Schätzungen zufolge werden dieses Jahr 360 Millionen Tonnen hergestellt. Bis 2025 werden es fast 500 Millionen Tonnen sein, und bis 2030 könnte die Zahl weltweit auf gigantische 619 Millionen steigen.
Diese Prognosen führen uns klar und deutlich vor Augen, dass ein rigoroses Eingreifen von Seiten des Staates nötig ist, wenn wir eine Chance haben wollen, diesem rasanten Anstieg Einhalt zu gebieten, damit Plastik nicht komplett unsere Meere überschwemmt. Schließlich haben uns Unzulänglichkeiten der Politik gepaart mit Faulheit und Mangel an Weitsicht erst in diese Krise geführt. Viele Länder haben bereits wichtige Schritte in die richtige Richtung unternommen. Panama hat kürzlich Plastiktüten verboten und war damit dem Beispiel Kenias aus dem vorangegangenen Jahr gefolgt, Thailand versucht, mit Rauchverboten dafür zu sorgen, dass keine Zigarettenstummel mehr den Strand verschmutzen.
Aber staatliche Maßnahmen allein reichen nicht aus. Die Bürger müssen ihre Macht nutzen, die sie als Verbraucher haben. Einige Menschen lehnen bereits Strohhalme sowie Besteck aus Plastik ab, säubern Strände und Küstenstriche und hinterfragen ihre Einkaufsgewohnheiten im Supermarkt. Wenn das häufig genug passiert, werden die Händler die Botschaft schnell verstehen und von ihren Lieferanten umweltschonendere Produkte fordern. Das wird sich dann wiederum positiv auf unsere Wegwerfgesellschaft auswirken, in der es leider Usus ist, viele Artikel nach einmaligem Gebrauch sofort wegzuwerfen. Dieses Verhalten muss dringend überdacht werden.
Darüber hinaus könnten wir vieles ohnehin abschaffen. Brauchen wir zum Beispiel wirklich Plastikstrohhalme, von denen jährlich mehrere hundert Millionen weggeworfen werden? Oder Plastik-Wattestäbchen und Kaffeebecher oder sinnlose Mikrokügelchen aus Kunststoff in Gesichtspeeling oder Zahnpasta? Die traurige Tatsache ist, dass der Nutzen von einem Großteil unseres produzierten Mülls so gering ist, dass wir uns die Frage stellen müssen, warum wir diese Dinge überhaupt verwenden.
Sehr wichtig ist auch, dass wir Maßnahmen nicht als Kosten sehen, sondern als eine Investition, die uns vor extrem negativen externen Effekten bewahrt – vor den versteckten Kosten, deren Ausmaß wir in den kommenden Jahren gerade erst anfangen werden zu verstehen. Das können beispielsweise verstopfte Abwasserkanäle sein, welche umliegende Gegenden überschwemmen, wodurch Gemeindesteuern und Versicherungsbeiträge steigen oder von Müll übersäte Strände, durch die Touristen wegbleiben und Geschäfte Konkurs anmelden müssen.
Wie auch beim Klimawandel sind die Auswirkungen der Umweltverschmutzung durch Kunststoff nur schwer zu stoppen und umzukehren. Und wie auch beim Klimawandel müssen wir schleunigst die Notbremse ziehen – und zwar gemeinsam. Dann können die freiwilligen Müllsammler an den Stränden vielleicht eines Tages den Sand an ihren Küsten auch genießen, statt ihn nur zu säubern.

Erik Solheim nimmt persönlich an der größten Strandsäuberungsaktion aller Zeiten teil, dem „Versova Beach Clean-Up“ in Mumbai, Indien.

„Ähnlich wie beim Klimawandel gilt: Ist der Schaden erst mal angerichtet, kann er nur äußerst schwer rückgängig gemacht werden. Die gute Nachricht ist allerdings, dass das Problem sehr einfach behoben werden kann.“
Erik Solheim

„Dieses Problem ist zum Teil durch reine Faulheit verursacht. Im Ernst: Müssen wir denn wirklich unbedingt durch Strohhalme trinken?“
Erik Solheim

Weiterlesen

Dieser Beitrag stammt aus der Ausgabe Früling 2018

Weiterlesen